ERZevangelikal?

„Du Jude“ schreien mir drei andere Kinder mit Wut verzerrten Gesichtern entgegen. Ich weiss nicht, was sie meinen. Ich bin 9 Jahre alt und in meinen Träumen stark und mutig wie Pippi Langstrumpf aus dem West-Fernsehen. Aber gerade schießen mir die Tränen in die Augen, ich fühle mich allein und vermisse meine 2 Freundinnen aus unserer kleinen Freikirche. Zusammen sind wir nicht anders.

Es ist 1988 und ich gehe in die 3. Klasse einer Polytechnischen Oberschule eines kleines Dorfes nähe Karl-Marx-Stadt. Wir gehören nicht dazu, wir sind anders, wir sind bekennende ChristInnen. Ich weiß genau, was ich in der Schule sagen darf und was nicht. Ich muss verhindern, dass meine Eltern ernste Probleme bekommen, wenn ich in der Schule zugebe, dass wir West-Fernsehen schauen, Autokarten besitzen und ich eine Jeans aus dem Westen im Kleiderschrank liegen habe. Beim Pionierappell stehe ich als Nicht-Pionierin in der letzten Reihe, an Pionier-Nachmittagen darf ich nicht teilnehmen, Urkunden für meine sportlichen Leistungen bekomme ich nicht wie alle anderen auf der Bühne, sondern allein in einer Ecke überreicht. Wir sind anders. Aber wir sind Krieger für das Gute. Wir versuchen wie unser Vorbild Jesus zu sein.

1994: „Ihr verdammten Juden“. Ich bin 14 Jahre alt und mit meinen Freund:innen aus der Kirche im Freibad.

Ein offensichtlich rechts gesinnter Jugendlicher steht uns auf dem Sprungturm gegenüber und zwingt uns zum Springen, weil wir „verdammte Juden und keine echten Arier sind“. Mittlerweile weiß ich, sie nennen uns Juden, weil wir Christ:innen sind und sie Juden hassen; weil sie sich als Rechtsradikale identifizieren.

Die DDR ist längst Vergangenheit. Dazu gehören wir dennoch nicht. Ich habe mich entschieden, politisch links zu sein – eine Zecke. Ich trage bunte Haare und bunte Kleidung und fühle mich besonders nachts in meiner erzgebirgischen Kleinstadt nicht sicher. Aber ich versuche wie Jesus zu sein- ich trete für Schwächere und Randgruppen ein. Ich kämpfe für Liebe und für Respekt für alle Lebewesen. Fleisch esse ich schon mehrere Jahre keins. Die Herkunft eines Menschen ist mir egal… meine beste Freundin ist Rumänin. Ich bin Idealistin. Das kommt in meiner Kleinstadt nicht gut an. Nur Arier leben ungefährlich.

1996: „Mama, danke dass du mich nicht abgetrieben hast“. Mit stolz trage mein selbst bemaltes T-Shirt auf dem Lebensmarsch. Hand in Hand mit meinen Freund:innen aus der Gemeinde –  im Kampf für das vermeintlich Gute, der eigenen Indoktrination noch nicht vollständig bewusst.

In der Jugendstunde meiner Kirche lerne ich, dass Homosexualität keine gute Gabe Gottes ist, Frauen dem Manne Untertan sein sollen, ich mich bis zur Ehe rein halten soll und der Islam eine gefährliche und lieblose Religion ist. Muslime sind kritisch zu sehen…gehören wir jetzt also doch dazu? Zur breiten rechten Masse?

Aber was ist mit unserem Vorbild Jesus? Jesus, ein rechter Homophob?

2023: „Du links versiffter Gutmensch“ sagt ein früherer Freund aus meiner Kirche zu mir und lächelt dabei verschmitzt. Wir mögen uns, uns verbindet viel. Wir sind zusammen aufgewachsen. Damals im Freibad auf dem Sprungturm stand er neben mir. Gemeinsam waren wir stärker.

Heute wählt er und viele andere AfD. Sie gehören jetzt dazu…zumindest irgendwie…

Aber würde Jesus AfD wählen? Beim Lebensmarsch mitlaufen, übers Gendern lästern und Homosexualität als Sünde bezeichnen?

Nein, ich glaube Jesus wäre ein links versiffter Gutmensch und hätte im Osten Deutschlands schlechte Karten.

Im Erzgebirge – da, wo sich rechtes und evangelikales Gedankengut vereinen und unbemerkt zur fremdenfeindlichen Symbiose werden.

Autor

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen